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Deutschsein ist kein Zuckerschlecken: Die stumme Klasse

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Was macht ein deutscher Dozent, wenn chinesische Studenten seinen Unterricht boykottieren? Und was ist los, wenn es im Seminar nach Nudelsuppe duftet? Zhang Danhong gibt Einblicke ins Studentenleben in China.

Die Autorin vor dem Kölner Brauhaus Sion

Die deutsche Wiedervereinigung haben wir Mitte der 1980er-Jahre an der Peking-Universität bereits vorweggenommen. Der ostdeutsche Professor vermittelte uns die gesamtdeutsche Literatur. Vor allem half er uns bei der Exegese von Goethes “Faust”. Ein westdeutscher Dozent, entsandt vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), sollte unser Sprechen verbessern.

Mit “uns” meine ich eine zehnköpfige Klasse, die ausschließlich aus Absolventen von Fremdsprachenschulen aus ganz China bestand. Da sich noch nie so viele Jugendliche wie in meinem Jahrgang mit guten Vorkenntnissen der deutschen Sprache um einen Germanistik-Studienplatz an der Peking-Universität beworben hatten, entschied die Fakultät kurzerhand, das geplante Kontingent von 18 auf 22 Plätze zu erweitern und uns in zwei Gruppen zu teilen – eine Normal- und eine Turboklasse. In den Unterrichtsstunden, die in erster Linie auf Deutsch gehalten wurden, blieben wir in unserer vertrauten kleinen Runde; andere Vorlesungen besuchten wir gemeinsam mit den Anfängern in der deutschen Sprache sowie den Anglisten und Romanisten.

Das Westtor der Peking-Universität

Um unsere Konversationsfähigkeit zu verbessern, musste der junge Dozent erst einmal erkunden, was wir bereits konnten. Ganz vorsichtig tastete er sich an uns heran: “Wie heißt Du?” “Woher kommst Du?” Diese Fragen fanden wir einfach lächerlich und unter unserer Würde. Wir hatten doch extra Namensschilder für ihn aufgestellt. Ohne vorherige Absprache reagierten wir zehn völlig identisch – wir schwiegen. Er versuchte weiter, uns Antworten zu entlocken: “Wie alt bist Du?” “Hast Du Geschwister?” Er tat mir leid. Als Streberin neige ich eigentlich dazu, mit den Lehrkräften zu kooperieren. Doch als jemand, die 500 Sätze über Lu Xun fast fehlerfrei dozieren konnte, fühlte ich mich von solchen Fragen beleidigt. Er hätte sich doch vorher bei den chinesischen Kollegen erkundigen können, wie weit wir schon waren.

Essen als Eisbrecher

Nach drei Sitzungen allein mit Selbstgesprächen gab der arme Kerl den Frontalunterricht auf: “Wisst Ihr was? Ich lade Euch heute zum Mittagessen im Schwalbenfrühlingsgarten ein.” Der “Garten” mit dem poetischen Namen war damals das einzige Restaurant auf dem Unigelände. Dort wurde ein vielfältigeres und leckereres Essen als in den Mensen zu sehr humanen Preisen angeboten. Zwar hatten wir mit unserer Schweigestrategie nicht auf diese Einladung hingearbeitet, doch die Freude darüber konnten wir kaum verbergen. In lockerer Atmosphäre fingen wir an, von uns zu erzählen. Irgendwann sagte die “Langnase” laut: “Hey, Ihr seid ja gar nicht taubstumm!”

Seitdem fand gefühlt jede zweite Stunde Sprechunterricht im Schwalbenfrühlingsgarten statt. Und wir erfuhren jede Menge über ihn: Er stammte aus Bremen und war lange Zeit Maoist gewesen. Sein Zimmer im Studentenwohnheim war vom Boden bis zur Decke mit Mao-Porträts beklebt. Na dann ist er jetzt ja im richtigen Land angekommen, dachte ich. Er fühlte sich anscheinend auch im Post-Mao-China so wohl, dass er seinen Aufenthalt immer wieder verlängerte. Irgendwann erfuhren wir den wahren Grund: Er hatte sich in eine Indonesierin chinesischer Abstammung verliebt. Die Einladungen wurden leider seltener – aber inzwischen brauchte er sie auch nicht mehr als Lockmittel, um uns zum Reden zu bringen.

Zur Entspannung James Bond

Ein anderes Fach in dieser Zehner-Runde war das Pendant zum Sprechen – das Hörverstehen. Uns stand dafür ein technisch sehr fortschrittlicher Raum zur Verfügung – mit Kassettenrekordern, Kurzwellenempfängern, Kopfhörern und abgetrennten Plätzen. Oft hörten wir die Nachrichten der Deutschen Welle und übersetzten sie simultan ins Chinesische. Diese eine Stunde forderte Höchstkonzentration. Zur Auflockerung verlagerte der Dozent, ein attraktiver Chinese Anfang 30, in den wir fünf jungen Damen (unsere Klasse war unter Gendergesichtspunkten geradezu vorbildlich) alle mehr oder weniger verliebt waren, den Unterricht ab und zu in seine Einzimmerwohnung. Während wir uns James Bond-Filme anschauten, bereitete er in der Küche Nudelsuppe zu. Es musste also nicht immer das feine Essen vom Schwalbenfrühlingsgarten sein, das uns glücklich machte. Eine heiße Nudelsuppe tat es auch.

Beim einem Uni-Dozenten gab es Agentenfilme gratis in der Wohnung zu sehen – und Nudelsuppe dazu

Leider wurden wir nicht von allen Professoren so verwöhnt wie von diesen beiden Junggesellen. Der Professor, der uns mit der Übersetzung des Heiligenstädter Testaments von Beethoven malträtierte, hielt seine Seminare immer ab, während seine Frau nebenan das Mittagessen zubereitete. Je heftiger es aus der Küche duftete, desto größer wurde unser Hunger. Mit hängendem Magen verließen wir dann seine Wohnung und mussten in die nächstliegende Mensa marschieren.

Sicherlich ist Ihnen nicht entgangen, dass bei uns alle Lehrkräfte auf dem Unigelände oder in unmittelbarer Nähe lebten. Auch wir wurden in Studentenheime eingeteilt, die sich allesamt innerhalb der Universität befanden. Mehr dazu in der nächsten Folge.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie “Deutschsein ist kein Zuckerschlecken” schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.

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