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Entscheidet der Brüll-Brite heute den Brexit-Poker?

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John Bercow könnte Kamikaze-EU-Austritt im Parlament de facto verbieten lassen ++ EU-kritisches Massenblatt „Sun“ fürchtet „Todesstoß“ für den Brexit

Quelle: BILD / britisches Parlament, AP
1:51 Min.

Er ist der bislang einzige Gewinner im endlosen britischen Brexit-Drama: Parlamentssprecher John Bercow (56), der mit den quietschbunten Krawatten. Seine legendären Ordnungsrufe im Unterhaus („Order, Oooooorder“) erklingen seit Wochen in Nachrichtensendungen weltweit. Bekanntheitsgrad von Westminster bis Wladiwostok: Gefühlt knapp hinter der Queen.

Bercow, der seit 1997 im Parlament sitzt und seine Stimmbänder als Speaker seit zehn Jahren malträtiert, hat aber weitaus mehr Macht, als „nur“ das Wort zu erteilen und mit seinen archaischen Brüll-Einlagen für Ruhe zu sorgen.

Er könnte heute Brexit-Geschichte schreiben, wenn er einen fraktionsübergreifenden Antrag zulässt, der die Gefahr eines ungeordneten Kamikaze-Brexits weitgehend bannen soll. Erstmals ist eine parlamentarische Mehrheit aus Labour-Opposition und einem Teil der regierenden Tories gegen Theresa May denkbar. Aber eben nur, wenn Bercow über den Rebellen-Antrag abstimmen lässt.

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▶︎ Der Plan zur Vermeidung schwerer Wirtschaftsschäden sieht vor, dass die Regierung den EU-Austritt aufschieben MUSS, sollte sich bis zum 26. Februar keine Mehrheit für ein Austrittsabkommen finden. Damit wäre Theresa May dann noch weiter von ihrem Ziel entfernt, den Brexit auf Basis des mit Brüssel verhandelten Abkommens am 29. März durchzupeitschen. Prompt warnte sie sinngemäß, damit könne der Brexit auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben werden. Was wiederum nicht wenige Pro-Europäer und Verfechter eines zweiten Referendums hoffen lässt.

Umgekehrt wittert die EU-kritische Zeitung „Sun“ bereits den „Todesstoß“ für den EU-Austritt als Ganzes. Am Dienstag titelte sie mit einem Appell an alle Unterhaus-Abgeordneten: „Don’t let Labour kill Brexit“ („Lasst Labour nicht den Brexit töten“).

Die Krux an der Sache: Bercow muss auch über die Zulassung von Änderungsanträgen zu Mays „Plan B“ urteilen, die in eine völlig andere Richtung gehen und May sogar ein neues Verhandlungsmandat mit Brüssel geben könnten. Dabei geht es um die Notfallklausel zur Vermeidung einer harten Grenze zwischen Irland und Nordirland nach der Scheidung Londons von der EU (genannt Backstop).

Kriegt May die Lizenz zum Nervtöten?

Das Problem: Die britische Seite hat vor Abschluss des Abkommens schon mehrmals Korrekturwünsche durchgeboxt. Der Backstop trägt also eigentlich schon Mays Handschrift. Ein EU-Diplomat nennt neue Last-Minute-Korrekturen, besonders die geforderte zeitliche Begrenzung, gegenüber BILD „nicht vorstellbar“.

Bedeutet: Es wäre eine reine Lizenz zum Nervtöten, Show-Verhandlung, pure Zeitverschwendung.

Denn der Club der 27 verbleibenden EU-Länder steht in dieser Frage bei Irland im Wort. Der EU-Diplomat: „Es käme auch niemand auf die Idee, eine Lebensversicherung abzuschließen, und die dann auf fünf Jahre zu begrenzen.“ Man könne der britischen Seite aber nur wieder und wieder beteuern, dass niemand auf EU-Seite wolle, dass der „Versicherungsfall“ eintritt, die ungeliebte Notfallklausel (Großbritannien müsste in der Zollunion verbleiben) jemals greifen muss.

Noch weniger gewillt ist man in den Hauptstädten Europas, den Backstop als Ganzes zur Disposition zu stellen, falls das britische Unterhaus dies fordert. „An diesem Punkt wäre ein wenig Realismus vonnöten“, stichelte Irlands Europa-Ministerin Helen McEntee Richtung London. „Der Baxckstop wurde über 18 Monate verhandelt, da kann es keine Änderungen mehr geben.

Bercows Frau war bei „Big Brother“

Bercow gilt als EU-freundlich und liegt deshalb häufiger mit der Regierung im Clinch. Seine Frau Sally, die zur Freude der britischen Boulevardpresse Gefallen an Erotikfotos findet und schon einmal im „Big Brother“-Haus gewohnt hat, kurvt mit zwei Pro-EU-Aufklebern auf dem Auto durch die Straßen Londons, was wegen Bercows Neutralitätspflicht für Ärger sorgte.

John Bercow has ANOTHER anti Brexit sticker on his car https://t.co/y6HVaVtkuJ via @MailOnline

— Gus Jackson 󠁧󠁢󠁳󠁣󠁴󠁿 🇬🇧 #BREXIT (@GussyJackson) January 20, 2019

Als sich erst die britische Boulevardpresse, dann ein Abgeordneter im Parlament über den Sticker mit der Aufschrift „Macht mich nicht verantwortlich – Ich habe gegen den Brexit gestimmt“ empörten, sagte der Parlamentssprecher trocken: „Das Auto gehört meiner Frau. Und ich bin mir sicher, dass der Abgeordnete nicht für eine Sekunde andeuten wollte (…), dass eine Ehefrau das Hab und Gut ihres Ehemanns ist. Sie hat ein Recht auf ihre eigene Meinung.“

„Niemals Verräter, niemals Volksfeinde“

Bereits bei der Abstimmung über den Brexit-Deal hatte Bercow einen Änderungsantrag links liegen lassen und dafür viel Kritik einstecken müssen. Doch Bercow gilt als maximaler Dickschädel: „Das ist Wasser auf den Rücken einer Ente“ („Das perlt an mir ab.“), kommentierte er einmal wütende Angriffe von Abgeordneten aus dem Regierungslager. Er sei schließlich nicht der Cheerleader der Regierung, sondern vertrete die Interessen des Parlaments. Ursprünglich ein Konservativer, hat sich Bercow zunehmend von den regierenden Tories entfremdet.

Ein dickes Fell beweist er auch bei Attacken britischer Medien: Als EU-freundliche Abgeordnete auf einer Titelseite als Meuterer verunglimpft wurden, antwortete Bercow mit einer Ermutigungsrede an seine Kollegen: „Bei der Abgabe Ihrer Stimme, so wie Sie es für richtig halten, sind Sie als Mitglied des Parlaments niemals Meuterer, niemals Verräter, niemals Querulanten, niemals Volksfeinde.“

Viel Beifall, aber auch beißende Kritik bekam Bercow für die Ankündigung, US-Präsident Donald Trump bei einem Staatsbesuch nicht im Parlament zu empfangen. „Ich habe das starke Gefühl, dass unser Widerstand gegen Rassismus und Sexismus und unsere Unterstützung für die Gleichheit vor dem Gesetz und eine unabhängige Gerichtsbarkeit enorm wichtige Überlegungen sind“, begründete er damals die Entscheidung.

Als May im Dezember die Abstimmung über den Brexit-Deal verschob, ohne das Parlament zu fragen, klagte Bercow über einen „zutiefst unhöflichen“ Akt. Möglicherweise deshalb erlaubte er den Abgeordneten entgegen den Gepflogenheiten, die Tagesordnung des Parlaments zu ändern. May war damit gezwungen, schon drei Tage nach der Niederlage ihres Brexit-Deals einen Plan B vorzulegen. Einen Änderungsantrag, der May vor der krachenden Niederlage möglicherweise eine Gesichtswahrung erlaubt hätte, ließ Bercow einfach links liegen. Es gilt als möglich, dass er das auch heute wieder machen wird.

Welche der brisanten Anträge zur Abstimmung kommen, entscheidet der Parlamentspräsident noch vor Beginn der Sitzung. Theresa May eröffnet die Debatte ab etwa 13.40 Uhr mit einer Rede. Die Abstimmungen beginnen gegen 20 Uhr deutscher Zeit.

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