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Mama will, was ich nicht will

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Eltern machen permanent Fotos von ihren Kindern und verbreiten sie in sozialen Netzwerken. An die weitreichenden Folgen denken sie dabei oft nicht.

Viele mögen die Aufnahmen von sich nicht. Das wird oft nicht bemerkt – oder ignoriert.

Nackt sitzt er auf einem rosa Töpfchen. Auf den anderen Fotos weint der Schauspieler Wilson Gonzalez Ochsenknecht bitterlich oder schaut mit gelbem Brei um den Mund in die Kamera. Nein, verrückt geworden ist der 29-Jährige nicht. Er ist seit Anfang der Woche das Gesicht der Kampagne #deinkindauchnicht. Damit will die Berliner Bloggerin Toyah Diebel zeigen, wie es wäre, wenn sich Erwachsene im Internet so zeigen würden, wie sie es ständig mit ihren Kindern tun.

Ein paar Handgriffe, und schon ist der niedliche Schnappschuss auf Instagram geteilt. Mit Freunden, Bekannten, vielleicht Fremden. Oder er wurde per Whatsapp an Oma und Opa in der Ferne gesendet. Jetzt, wo die Generation, die mit sozialen Netzwerken aufgewachsen ist, Nachwuchs bekommt, gehört das digitale Fotoalbum zum Alltag. Einen eigenen Begriff gibt es bereits dafür – „sharenting“, ein Mischwort aus „to share“ und „parenting“.

Zur Dimension: Fast 20 Millionen Kinder und Jugendliche leben hierzulande. Von rund vier Millionen sind laut dem Deutschen Kinderhilfswerk Fotos und Informationen online. Meistens ohne sie vorher gefragt zu haben.

„Uns Erwachsenen ist es wichtig, stets die Kontrolle darüber zu haben, welche Bilder und Daten von uns im Netz landen“, sagt Toyah Diebel. „Bei unseren Kindern sieht das oftmals etwas anders aus.“ Ob in der Badewanne, im Bettchen, oder mit Erbrochenem in den Mundwinkeln: Die Würde der Kinder spiele in den sozialen Medien – im Gegensatz zum Grundgesetz – plötzlich keine große Rolle mehr.


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Medienpädagogen warnen vor dem Trend, Psychologen und Cyberkriminologen. Das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) hatte auch schon einmal eine Kampagne auf Facebook gestartet, mit dem Namen #erstdenkendannposten. Im vergangenen November veröffentlichte der Verein mit der Universität Köln eine der wenigen Studien zur Nutzung von digitalen Medien im Familienalltag. „Zunächst einmal ist es normal, Fotos von seinen Kindern zu machen“, sagte die Mitautorin Nadia Kutscher dem Tagesspiegel. „Heute werden sie aber viel öffentlicher verbreitet.“

In 37 Interviews wurden Eltern und Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren dazu befragt, wie und wem sie Fotos digital zeigen. Einige Kinder gaben an, dagegen zu protestieren, was ihre Eltern für Aufnahmen verbreiten. Sie fänden die oft gar nicht lustig oder niedlich, sondern peinlich – und befürchten, später mal dafür ausgelacht zu werden.

Ein kleines Mädchen brach in Tränen aus, als es sah, dass die Mutter anderen ein Bild gezeigt hatte, auf dem sie die Kleine stillt. Ein Fazit der Studie lautet deswegen: Eltern unterschätzen die Folgen ihres Handelns. „Kinder können ziemlich früh sagen, was für sie in Ordnung ist“, sagt Kutscher. „Oft werden sie aber gar nicht danach gefragt. Und wenn sie Einspruch erheben, werden ihre Wünsche nicht immer berücksichtigt.“

Mütter fangen mit Ultraschallbildern an

Erwachsene haben sich offensichtlich daran gewöhnt, anderen private Augenblicke zu zeigen. Kinder nicht. Ganz intime Momente gehören aus ihrer Sicht noch nicht einmal in die kleine Whatsapp-Familiengruppe.

Kutscher empfiehlt, immer erst zu fragen – und ein Nein zu akzeptieren. Zwar kann ein Kind in Deutschland erst ab 14 Jahren offiziell über Bilder von sich bestimmen. Bis dahin wird die Verantwortung in die Hände der Eltern gelegt. Das Kinderhilfswerk meint aber: Auch jüngere Menschen haben ein Recht darauf, dass ihre Persönlichkeit und ihre Privatsphäre geachtet werden. Gerade im digitalen Raum.

Die ersten Worte, Schritte, Urlaube. Der erste Tag in der Kita, später in der Schule. Wer aktive Eltern hat, kann im Jugendalter auf seine komplette Biografie im Netz zurückschauen. In manchen Fällen sogar in die Zeit vor der eigenen Geburt. „Hallo, du kleines Gummibärchen“, posten Mütter öffentlich und zeigen Ultraschallbilder. „Ich glaube, die Fruchtblase ist geplatzt“, schreiben sie und zeigen ihren kugelrunden Bauch.

Was Eltern ohne böse Hintergedanken tun, kann sogar gefährlich werden. Kerstin Demuth vom Verein Digitalcourage rät dringend davon ab, Bilder von Kindern zu verbreiten: „Im Gegensatz zu einem Foto im Wohnzimmer verschwindet eins in sozialen Netzwerken nie wieder!“ Facebook, das Whatsapp und Instagram aufgekauft hat, sichert sich in seinen allgemeinen Geschäftsbedingungen eine einfache Lizenz – und behält sich unter anderem vor, die Fotos in Zukunft eventuell auch an Dritte, zum Beispiel Werbepartner, weiterzuleiten.

Allein wo sich die Grundschule befinde, lasse Facebook Rückschlüsse auf Wohngegend, soziales Milieu, Einkommen ziehen. Meldet sich ein Jugendlicher dann mit 16 Jahren selbst dort an, könnte das US-Unternehmen dieses Profil mit all den früheren Bildern und Daten verknüpfen. „Und je nachdem was Facebook von einem Nutzer zu wissen glaubt, kann derjenige leicht manipuliert werden“, mahnt Demuth.

Auf ihn zugeschnittene Artikel und Anzeigen sagen dem Teenager direkt, was er lesen und kaufen soll. Die Gesichtserkennung im Internet sei ebenfalls ein Risiko. Und: Die Freunde, die Eltern in sozialen Netzwerken hätten, sind nicht immer Menschen, die man wirklich gut kennt. Manche haben sie vielleicht einmal gesehen. Wer will, könne jedoch einen Screenshot machen, das Bild herunterladen oder in Extra-Gruppen verbreiten, in denen Kinderfotos untereinander geteilt werden. Beim Mittagsschlaf, im Badehöschen am Strand. Auf die Gefahr durch Pädophile wiesen bereits etliche Kriminalexperten hin.

Das Kind kann sich zum Narzissten entwickeln

Neben all diesen Aspekten ist außerdem fraglich, inwiefern die Entwicklung des Kindes gestört wird. Bärbel Wardetzki ist eine deutsche Psychotherapeutin und Autorin. Ihre Spezialgebiete sind Narzissmus und Kränkungen. Es komme aus ihrer Sicht darauf an, wie die Eltern fotografieren, wie oft und mit welcher Motivation. „Wollen sie den Großeltern bloß hin und wieder den Enkel zeigen, weil sie so weit weg wohnen? Oder geht es darum, die Fotos zur eigenen Selbstwerterhöhung zu zeigen? Dann erfüllen sie ihre Bedürfnisse auf Kosten der Kinder“, sagt sie. So oder so sollten nur Bilder gezeigt werden, die nicht degradierend sind. Über die man später als Erwachsener sagen würde: Das war in Ordnung.

Mitunter werden dem Kind aber auch kritische Botschaften vermittelt, die sie ihr Leben lang prägen. „Bekommt es bei Fotos besonders viel Aufmerksamkeit und Zuneigung, kann sich das Kind merken, es sei besonders wichtig.“ Wiederholt sich dieses Schema, entwickle es sich womöglich narzisstisch oder strebe sehr stark nach Anerkennung und Bestätigung von außen.

Das stete Fotografieren kann auch zu dem Gedanken führen, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist. „Das Kind glaubt dann, es muss erst etwas tun, um gesehen und gemocht zu werden“, sagt die Psychologin. Dieses Gefühl könne er als Erwachsener zum Beispiel durch einen extrem ausgeprägten Leistungsdruck kompensieren wollen. Ein drittes Beispiel: Weint ein kleiner Junge und wird fotografiert statt getröstet, kann er sich einprägen: Ich kann niemandem vertrauen. Ich zeige meine Gefühle lieber nicht mehr.

Letztlich beobachtet das Kind auch, wie die Eltern es gerne sehen – süß, hübsch, lustig. Entspricht es diesen Erwartungen, so die Folgerung, ist es wertvoll. Ganz gleich ob es dieses Fremdbild von sich mag oder nicht. „All das kann es dem Kind auch schwer machen, für sich selbst zu entdecken, wer es wirklich ist“, erklärt Bärbel Wardetzki. „Oder es hat Angst, sich anderen so zu zeigen.“

Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, warnt ebenfalls davor, dass Kinder durch das ständige Fotografiertwerden Probleme bekommen können, „sich selbst zu akzeptieren und eine eigene Identität zu entwickeln“ Hinzu kommt das Risiko, gemeine Kommentare über sich zu lesen und dadurch verletzt zu werden. Klassenkameraden können Fotos finden und anfangen zu mobben – auf dem Schulhof oder direkt digital.

Und schließlich, heißt es von Unicef, kann jemand irgendwann Schwierigkeiten bekommen, einen Job zu finden. Was, wenn sich der Chef die ganze Kindheit und Jugend im Netz ansehen kann? Mit allem, was er niemals sehen sollte.

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