Politik

Deutschland soll seine Islamisten zurückholen

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Warum eine Rückführung sinnvoll wäre

Nach der Festnahme des berüchtigten deutschen ISIS-Dschihadisten Martin Lemke und zwei seiner Frauen samt Kindern stellt sich die Frage: Wie umgehen mit den deutschen Staatsangehörigen, die sich im Ausland terroristischen Organisationen angeschlossen haben?

Am Mittwoch diskutierten darüber die Regierungsvertreter der Anti-ISIS-Koalition in Washington, auch Außenminister Heiko Maas nahm teil. Am Montag erst hatte das US-Außenministerium die Herkunftsstaaten aufgefordert, ihre Staatsbürger aus Nordsyrien zurückzunehmen und strafrechtlich zu verfolgen.

Wer noch die Attentate von Paris, Brüssel, Manchester oder Berlin im Gedächtnis hat, dürfte im ersten Gedanken kaum dafür plädieren, Personen zurückzuführen, die sich im vollen Bewusstsein einer Gruppe angeschlossen haben, die mit öffentlichen Enthauptungen von sich reden machte.

Doch es gibt neben humanitären Gründen auch sicherheitsrelevante und völkerrechtliche Aspekte, die für eine Rückführung sprächen, wie der FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae gegenüber BILD erklärt.

  • Martin Lemke aus Zeitz

    Deutscher ISIS-Scherge leugnet Gräueltaten

    Die Kurden-Miliz YPG hält den deutschen ISIS-Kämpfer gefangen, veröffentlichte das erste Foto von ihm und verhörte ihn bereits.

Mehrere Tausend Islamisten reisten in den vergangenen Jahren aus Europa nach Syrien, um sich dort dschihadistischen Gruppierungen anzuschließen, darunter mehr als 1050 Personen aus Deutschland, so die aktuelle Sprachregelung der deutschen Sicherheitsbehörden gegenüber der Öffentlichkeit.

Der Großteil der Dschihad-Reisenden schloss sich dem sogenannten „Islamischen Staat“ an, vor allem die Ausrufung des „Kalifats“ im Sommer 2014 sowie die schnelle Ausbreitung der Miliz ließ die Ausreisezahlen in den Folgemonaten nach oben schnellen.

Mit den militärischen Niederlagen, die die internationale Koalition gegen ISIS und die lokalen Kräfte vor Ort dem „Islamischen Staat“ zufügten, gingen auch die Ausreisezahlen zusehends zurück, auch deshalb, weil es für Dschihad-Freiwillige immer schwieriger wurde, das noch von ISIS kontrollierte Gebiet überhaupt zu erreichen.

Umgekehrt wurde auch die Flucht aus dem ISIS-Gebiet immer schwieriger: Während es in den Jahren zuvor für rückreisewillige ISIS-Mitglieder noch vergleichsweise einfach war, wieder in die Türkei und von dort aus nach Europa zu gelangen, ist dies mittlerweile kaum noch möglich.

Zum einen sind die Grenzkontrollen an der syrisch-türkischen Grenze inzwischen deutlich strikter als noch 2014, zum anderen werden flüchtige ISIS-Mitglieder häufig von den Kämpfern der YPG gefasst, jener kurdischen Miliz, die im Verbund mit der westlichen Anti-ISIS-Koalition in Nordostsyrien gegen ISIS vorgeht.

  • Freund von „Deso Dogg“

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  • Exklusiv

    Deutscher ISIS-Deserteur in Syrien verhaftet

    Der Stuttgarter Dirk P. schloß sich ISIS an und floh schließlich vor den Terroristen. Jetzt wird er von der kurdischen YPG gefangengehalten

Nach BILD-Informationen sitzen in den Gefängnissen der kurdischen Regionalverwaltung knapp vier Dutzend Dschihad-Reisende aus Deutschland, dazu kommen noch deren fast 80 Kinder, von denen viele im „Kalifat“ geboren wurden, mehrere aber auch von ihren Eltern nach Syrien gebracht wurden.

Während aus dem Nachbarland Irak bereits mehrere gefangene deutsche Dschihadisten und deren Kinder zurück nach Deutschland gebracht wurden, stellt sich die Lage in Nordostsyrien anders da. Denn das Gebiet wird von der PYD und ihrer YPG-Miliz kontrolliert, die wiederum als syrischer Ableger der als Terrorgruppe gelisteten PKK gilt. Das Auswärtige Amt scheut deshalb davor zurück, zu der kurdischen Miliz direkte Gespräche aufzunehmen, wohl auch aus Rücksicht auf die Beziehungen zur Türkei.

Für die Angehörigen der aus Deutschland Ausgereisten eine schwierige Situation. Wenn überhaupt, werden sie vom Auswärtigen Amt mit Standardsätzen bedacht: Man könne in Syrien nichts tun.

Eine Familie aus Süddeutschland, deren Sohn in einem Gefängnis der YPG einsitzt, wurde erst von BILD darüber informiert, dass dieser noch am Leben ist – obwohl das Auswärtige Amt über dessen Lage bereits informiert war.

Thomas (Name geändert), der Bruder des Festgenommen, sagte zu BILD: „Ich vermisse meinen Bruder sehr und würde ihm gerne sagen, dass ich für ihn da bin. Ich bitte die Bundesregierung, ihn zurück nach Deutschland zu holen.“

Auswärtiges Amt verweigert Hilfe

Doch einer Rückführung nach Deutschland verweigert sich das Auswärtige Amt mit der immer gleichen Begründung: Seit die deutsche Botschaft in Damaskus geschlossen ist, könne man keine konsularische Betreuung übernehmen.

Tatsächlich sind aber etwa Beamte des Bundesnachrichtendienstes mehrfach vor Ort gewesen und führten dort Befragungen durch. Mittels eines Amtshilfeersuchens hätte das Auswärtige Amt also sehr wohl die Möglichkeit zur Rückführung. Zudem befinden sich auch die Streitkräfte der USA, Frankreichs und Großbritanniens vor Ort, die ebenfalls um Hilfe angefragt werden könnten, zumal auch die USA bereits mehrfach amerikanische Staatsbürger zurückgeführt haben – obwohl Washington derzeit keine diplomatische Vertretung in Syrien unterhält.

Offenbar also gibt es andere Gründe dafür, dass das Auswärtige Amt den deutschen Staatsangehörigen in Nordsyrien Hilfe verweigert.

FDP-Politiker fordert Rückführung

Doch kann es tatsächlich eine Lösung sein, deutsche Islamisten anderen aufzubürden, in diesem Fall einer Gruppierung im Kriegsgebiet Syrien, die gegen ISIS kämpft?

▶︎ Nein, sagt der FDP-Politiker und Rechtsexperte Stephan Thomae, schließlich fordere Deutschland ja auch, dass andere Staaten ihre Gefährder zurücknehmen: „So wie wir von den Herkunftsstaaten verlangen, dass sie ihre Staatsbürger zurücknehmen, die bei uns Straftaten begangen haben, können sie das zurecht auch von uns erwarten, wenn deutsche Staatsangehörige im Ausland Straftaten verüben oder an Kriegshandlungen teilnehmen.“

Auch Sicherheitsaspekte macht Thomae geltend: „Es wäre fatal, wenn Deutsche sich in ausländischen Gefängnissen weiter radikalisieren und dann irgendwann nach Deutschland zurückkehren würden. Das frühzeitige Zurückholen, um ihnen den Prozess zu machen, ist daher sinnvoll.“

Tatsächlich gelten etwa die Gefängnisse im Irak, in denen nach 2003 Hunderte Dschihadisten inhaftiert wurden, als „Akademien des Dschihad“. Hier konnten sich die Islamisten erst richtig vernetzen und organisieren, hier stieg der vorher eher unbedeutende Prediger Ibrahim al-Badri zu einer wichtigen Leitfigur auf, bis er schließlich unter dem Namen Abu Bakr al-Baghdadi an die Spitze des „Islamischen Staates“ gelangte.

In den überfüllten Gefängnissen der YPG-Miliz könnte sich ein ähnliches Szenario wiederholen: Hier leben nun auf engstem Raum Leute zusammen, die im „Kalifat“ womöglich nur sporadischen Kontakt hatten.

Mit dem von Donald Trump angekündigten Truppenabzug der USA aus Nordsyrien stellt sich zudem die Frage, wie die YPG mit den Gefangenen verfahren wird. Seit sie 2017 erstmals in größerer Zahl ausländische ISIS-Mitglieder gefangennahmen, fordert die kurdische Miliz die Herkunftsstaaten dazu auf, ihre Staatsbürger zurückzunehmen – bislang jedoch sind nur wenige Staaten darauf eingegangen.

Die YPG steht durch Kämpfe mit der Türkei an der einen und ISIS an der anderen Front unter enormem Druck, die Bewachung Hunderter Gefangener bindet viele Ressourcen.

Bereits jetzt gab es nach BILD-Informationen mehrere Ausbruchsversuche inhaftierter Dschihadisten aus den kurdischen Gefängnissen. Sollte die YPG nach einem US-Truppenabzug die Gefangenen einfach laufen lassen oder diese in den Kriegswirren entkommen, würde ein Szenario eintreten, vor dem deutsche Anti-Terror-Fahnder gegenüber BILD seit Langem warnen: Personen, denen eine hohe Gefährlichkeit beschieden wird und die bereits in Gewahrsam waren, wären wieder auf freiem Fuß, statt kontrolliert in einem deutschen Gefängnis.

„Der Staat hat eine Verantwortung all seinen Staatsangehörigen gegenüber, auch wenn sie im Ausland eine Straftat begehen“, sagt auch Rechtsexperte Thomae. „Er darf deshalb nicht reflexartig in Abwehrhaltung verfallen und tatenlos zusehen, wie die Personen in Gefängnissen womöglich zu einem noch größeren Sicherheitsrisiko werden.“

Bei Kindern: Rückführung aus humanitären Gründen

Ein dritter Aspekt betrifft diejenigen Deutschen, die unschuldig in den kurdischen Camps in Nordsyrien festsitzen: die Kinder der Dschihadreisenden. Nach BILD-Informationen sind es mittlerweile fast 80 Minderjährige, die teilweise von ihren Eltern ins „Kalifat“ gebracht wurden, teilweise dort geboren wurden. Anders als die männlichen ISIS-Mitglieder, die in Gefängnissen einsitzen, werden die Frauen und Kinder in von der kurdischen Miliz kontrollierte Flüchtlingslager gesteckt.

Gabi S. musste hilflos mit ansehen, wie ihr Sohn und dessen Frau die gemeinsame Tochter nach Syrien mitnahmen. Das Kind ist mittlerweile im schulpflichtigen Alter, doch das Auswärtige Amt verweigert bislang auch ihm jede Hilfe. Für Gabi S. unerträglich: „Ich wünsche mir, meine Enkeltochter endlich wiederzusehen. Sie soll hier endlich eingeschult werden, stattdessen sitzt sie seit mehr als einem Jahr in einem Camp in Syrien. Ich will auch endlich meine anderen beiden Enkelkinder sehen, sie haben ein friedliches Leben in Deutschland verdient.“

Auch die Schwester von Maria (Name geändert) aus Berlin wird mit ihren drei Kindern in einem Camp in Nordsyrien festgehalten. Maria wurde wie Thomas ebenfalls nicht von den Behörden, sondern erst von BILD darüber informiert, dass ihre Verwandten noch leben und in einem Camp der kurdischen Milizen einsitzen – allerdings hatte das Auswärtige Amt in diesem Fall tatsächlich noch keine Kenntnis hiervon.

„Meine Schwester und ihre drei Kinder (fünf und vier Jahre sowie vier Monate alt) sitzen seit Dezember 2018 in einem Lager in Nordsyrien fest. Jeder Tag ist ein Kampf um Leben und Tod“, sagt Maria zu BILD. „Ich bitte darum, dass die deutsche Regierung Verhandlungen mit der YPG aufnimmt und die dort festgehaltenen deutschen Staatsbürger nach Deutschland zurückführt, um ihnen physische Sicherheit zu gewähren und ihnen ihre Menschenrechte zurückzugeben.“

  • Warten auf Rückführung

    Kinder deutscher ISIS-Mitglieder in Syrien

    Gut 60 deutsche Kinder sitzen im nordsyrischen Kriegsgebiet fest. Der FDP-Politiker Stephan Thomae fordert ihre Rückführung.

Tatsächlich ist die Versorgungslage in einigen Camps ausgesprochen angespannt. Anfang Dezember berichtete BILD über die regelmäßig ausbrechenden Feuer in den Zelten, die durch die primitiven Benzinheizungen verursacht werden. Ein Kind hatte damals schwere Brandverletzungen erlitten und leidet seitdem unter den Verbrennungen, die mangels Medikamenten nicht behandelt werden. Mittlerweile ist es nach BILD-Informationen in einem der Flüchtlingscamp zu einem Todesfall gekommen: Durch die primitive Heizung brannte vor vier Wochen wieder eines der Zelte ab, eine Mutter konnte nur vier ihrer Kinder retten, ein fünftes konnte nicht schnell genug herausgebracht werden und verbrannte.

Doch auch die Kälte fordert Opfer: In den vergangenen Tagen flohen Tausende aus den letzten von ISIS gehaltenen Ortschaften. Mindestens 29 Kinder sind laut WHO bei dieser Flucht erfroren.

FDP-Politiker Thomae erinnert auch an die Verantwortung des Staates für seine Staatsangehörigen: „Insbesondere die Kleinkinder, die schutzlos den Fängen des IS ausgeliefert sind, müssen je früher desto besser nach Deutschland zurückgeholt werden, wo sie meistens Familienangehörige haben, die auf sie warten. Nur in Deutschland haben diese Kinder eine Chance auf ein normales Leben, fern der IS-Ideologie.“

Dem stimmt auch Claudia Dantschke zu, die sich bei der Beratungsstelle Hayat des Problems radikalisierter Personen annimmt: „Deutschland sollte dem Beispiel Frankreichs jetzt sehr schnell folgen, denn viele Frauen und Kinder sind bereits seit über einem Jahr in den Gefangenenlagern. Es sind unsere Staatsbürger und je eher sie und vor allem die Kinder wieder in Deutschland sind, desto besser lässt sich konkret mit ihnen arbeiten, um sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren.“

Wie verfahren andere Staaten?

In größerem Umfang haben bislang Kasachstan, Russland und Indonesien ihre Staatsbürger aus Syrien geholt. In Belgien haben die Angehörigen zweier inhaftierter Islamistinnen den belgischen Staat auf Rückführung ihrer Kinder und Enkelkinder verklagt, ein Gericht gab ihnen Recht. Der belgische Staat müsse die beiden Frauen und ihre insgesamt sechs Kinder innerhalb von 40 Tagen zurückholen, andernfalls würden für jeden Tag 5000€ Strafe fällig. Die Frist ist mittlerweile abgelaufen, doch nach BILD-Informationen befinden sich die Belgierinnen immer noch in Syrien.

Die USA haben mehrfach gefangene Amerikaner zurückgeführt, zuletzt wurde der Fall des Dschihadisten Warren Clark bekannt, der im Januar von der YPG gefangen wurde. Wenige Tage später wurde er in die USA zurückgeführt und muss sich dort nun vor Gericht verantworten.

Aus Frankreich gab es in den vergangenen Tage mehrfach Signale der Regierung, dass die knapp 130 französischen Staatsbürger zurückgeführt werden sollen, allerdings nach BILD-Informationen noch keine konkrete Umsetzung. Für die Regierung, deren Land in Europa in den vergangenen Jahren am härtesten von ISIS-Terror getroffen wurde, ist eine solche Rückführung recht heikel, doch offenbar hat man sich in Paris nun entschieden, jene Leute zurückzuholen, die der Republik meist mit besonderen Hass gegenüberstanden.

Ausschlaggebend dafür dürfte für die französische Regierung auch die Gefahr sein, dass die Gefangenen an das Assad-Regime übergeben werden. Dass der Diktator von Damaskus Hunderte europäische Staatsbürger, darunter viele Kinder, in seine Gewalt bekommt, dürfte für die europäischen Regierungen ein Albtraum sein. Denn Assad könnte die Europäer als Faustpfand für Verhandlungen und die Wiederaufnahme von Beziehungen benutzen.

Zudem hat das Assad-Regime jahrelange Erfahrung damit, Dschihadisten in den eigenen Gefängnissen heranzuzüchten, um sie dann zu einem geeigneten Zeitpunkt auf einen gemeinsamen Feind loszulassen. Bislang waren dies überwiegend Dschihadisten aus dem Maghreb, Syrien selbst und dem Irak. Durch einen Deal mit der YPG könnte Assad erstmals über ein größeres Reservoir an kampferfahrenen europäischen Islamisten verfügen.

Lieber Claudio Pizarro,

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